Der „Lokführer“ auf dem vorderen Führerstand der neuen elektrischen Schnellzugmaschine (ES 1) betrachtet misstrauisch meine rote Erlaubniskarte. „Gell, Sie san von der Gruppenverwaltung?“ „Nein, ich bin nur Pressemann.“ „So?“ Geringschätzig: „Pressemann! Aha – Düt-rich-Lo-där. Hm, mir ham auch an Führer, der wo Dütrich heiß. Kennen S’ den vielleicht?“
Ich kenne ihn zwar nicht, aber mein Vorname hat mich offenbar doch rehabilitiert, und ich darf nun hinaufsteigen. Kaum bleibt mir Zeit, alle Hebel, Uhren und Leitungen mit einem Rundblick zu umfassen – noch eine Minute ist bis zur Abfahrt des „Karwendelexpreß“ des Mittagschnellzugs von München nach Innsbruck über Garmisch-Partenkirchen, der nur noch in Murnau, Mittenwald und Seefeld hält und auf der unglaublich kurven – und steigungsreichen Strecke erstaunliche Geschwindigkeiten entwickelt. Die „Bremsprobe“ ist schon gemacht; dadurch soll festgestellt werden, ob die Luftleitung durch alle Wagen funktioniert und der ganze Zug vom Führerstand aus gebremst werden kann. Dann kommt noch der Zugführer und gibt dem Lokführer ein paar Streckenbefehle, darunter Geschwindigkeitseinschränkungen für Umbaustellen. Von der anderen Seite steigt der Mitfahrer auf, der aber nur bei Schnellzügen auf der E-Maschine steht, denn bei Personenzügen muß der Zugführer als Begleiter auf der Maschine sein, und dann geht’s los. Der Mann mit der roten Mütze hat das Abfahrtszeichen gegeben, der Lokführer kurbelt mit raschen Umdrehungen sein Handrad auf Punkt drei oder vier, und der Zug setzt sich langsam in Bewegung.
Das heißt, „langsam“ ist nur eine Formel. Gleichmäßig, aber rasch steigert sich die Geschwindigkeit, wie wir Münchener es ja alle schon vom Abschiednehmen an den elektrischen Zügen her kennen. Da kann man nicht mehr bis zum Ende des Bahnsteigs mitgehen. Wenn der letzte Wagen die Halle verlässt, fahren wir schon mit ansehnlicher Geschwindigkeit, ja, der Ingenieur, den mir die Reichsbahndirektion zur Auskunft freundlichst mitgegeben hat und der unermüdlich auf meine Fragen antwortet, sagt mir sogar, dass die elektrischen Schnellzugsmaschinen nur etwa vier- bis fünfhundert Meter brauchen, um auf die volle Geschwindigkeit zu kommen.
So jagen wir auch schon über das Weichengewirr des Münchener Hauptbahnhofs – man befindet sich hoch oben auf dem Führerstand, übersieht auf weit hinaus die Strecke, empfindet ein unbeschreibliches Gefühl der Zufriedenheit und bedauert nur jene kümmerlichen „Zivilisten“, die weiter hinten auf Bänken und Polstern sitzen und nicht den halben Genuß von der Fahrt haben wie wir. Allerdings – der Lokführer hat’s nicht so schön. Jedem von uns ist schon eine Eisenbahnfahrt langweilig vorgekommen – einem Lokomotivführer bestimmt nie. Man ist geneigt anzunehmen, dass er ungefähr beim Verlassen des Bahnhofs „aufdreht“ und bei der nächsten Station wieder „zumacht“; ich überzeugte mich, dass er keine ruhige Minute auf seinem Führerstand erlebt.
Unter anderem hat er sein Fahrplanbuch vor sich, in dem genau eingetragen ist, welche Geschwindigkeit er fahren muß, um fahrplanmäßig anzukommen, und welche Höchstgeschwindigkeit er fahren darf, falls er den durch irgend ein Hindernis entstandenen Zeitverlust auszugleichen hat. Also etwas fünfundsiebzig Kilometer fahrplanmäßiger Geschwindigkeit, in der nächsten Spalte fünfundachtzig Kilometer erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Der „Karwendelexpreß“ hat das Besondere, dass die beiden Spalten für die ganze Fahrtdauer gleich sind, dass heißt also, der Zug fährt auf der ganzen Strecke die nach Unterbau und Kurvenreichtum höchstzulässige Schnelligkeit. Und nun noch ein paar Baustellen mit „langsamer Fahrt“ – und schon schimpfen die ahnungslosen Passagiere hinter uns über die Bummelei. Wir haben freilich auch ein paar solcher Bremsstellen auf dem Weg, und ich bewundere den Führer, wie er die letzten Möglichkeiten herausholt und den Zug tatsächlich auf die Minute nach Garmisch-Partenkirchen bringt – 101 Kilometer in 90 Minuten ! Von den Steigungen und Kurven, die dabei im Expresszugtempo zu überwinden sind, kann man sich vielleicht einen Begriff machen, wenn man bedenkt, dass ein Teil dieser Strecke ursprünglich als Lokalbahn gebaut wurde. Jetzt erst werden ein paar der gefährlichen Kurven verflacht, um dadurch noch günstigere Fahrzeiten zu erzielen.
Du Pasing, die große Station nach München, muß der vielen Weichen wegen selbstverständlich erheblich langsamer gefahren werden. Dann kommt die weite Kurve nach Süden, und kaum sind wir in die lange Gerade eingebogen, da zeigt der Reichsbahningenieur auf den Geschwindigkeitsmesser: wir laufen augenblicklich zwischen 100 und 105 Kilometer die Stunde. Ein erfreuliches Tempo, wie mir scheint, und ich kann mir schon was dabei denken, wenn mir der Mitfahrer sagt: „Da vorn, bei Gräfelfing, kommt jetzt ein Loch.“ Dieses „Loch“ dürfte man zu Fuß wohl auch mit der Wasserwaage nicht finden – wir rasen mit 1000 Kilometer darüber und spüren auf dem hohen Führerstand deutlich ein raschen Senken und Heben. Die Passagieren merken davon nichts.
Hinter Gauting beginnen die Kurven, die bis Garmisch-Partenkirchen nicht aufhören, und nun hat auch der Lokführer ununterbrochen zu tun. Mit dem großen Handrad schaltet er, je nachdem es notwendig und möglich ist, mehr oder weniger Strom ein, bei den langen Gefällen wird der Strom durch einen besonderen Knopf ganz ausgeschaltet – was vor allem bei Notfällen günstig ist, da bei der ES 1 für jede Kontaktstellung eine ganze Umdrehung erforderlich ist, das Rückdrehen also nur verhältnismäßig langsam geht - , und die Luftdruckbremse tritt in Tätigkeit. Bei den Stationen muß fast immer langsamer gefahren werden, auch die durch Streckenbefehle sowie an Ort und Stelle durch Schilder bezeichneten Umbaustellen hemmen unsern Lauf etwas. Dafür geht’s dann bei freier Fahrt wieder umso schneller, und man kann kaum genug schauen, um die neuen landschaftlichen Eindrücke, die sich auf dem Führerstand viel schöner und reichhaltiger bieten als beim Blick vom Seitenfenster aus, alle aufzunehmen. Der Starnberger See liegt schon hinter uns. Nun geht’s hinter Diemendorf talab nach Weilheim, und das Gebirge liegt als prachtvolles Panorama vor uns. Glücklicherweise haben wir durch alle Stationen freie Fahrt, und so kommen wir pünktlich nach Murnau, unserem ersten Halteplatz, wo gleich nach uns der Gegenschnellzug eintrifft. Nach kurzem Aufenthalt geht’s nun steil hinunter zum Murnauer Moos und nun an der Loisach entlang auf das prächtige Zugspitzmassiv zu.
Aber ich will ja keine Landschaftsbeschreibung geben, sondern Wesen und Vorzüge des elektrischen Bahnbetriebs schildern, wie sie mir durch die Fahrt auf der Lokomotive und die Erläuterungen des Reichsbahningenieurs klar geworden sind.
Das jeder merkt, wenn er während der Fahrt aus dem offenen Fenster sieht, ist auch für den Führer und damit den ganzen Zug nicht unwesentlich: das rauchfreie Fahren. Auch die Nachbarn von Eisenbahnlinien oder gar Bahnhöfen haben ihre Freude daran. Wesentlich ist ferner die vollkommene Übersicht, die sich vom Führerstand einer E-Maschine aus bietet. Bei Dampflokomotiven für großen Aktionsradius war man immer gezwungen, den Führerstand zwischen Kessel und Tender anzubringen, und es ist klar, dass der lange Kessel dem Führer auf einer Seite die Sicht beschränkt. Das schreckliche Unglück am Münchener Hauptbahnhof in der großen Linkskurve – der Führer steht rechts – wäre wohl nicht geschehen, wenn der Führer auf dem Frontstand einer E-Maschine gewesen wäre und daher die Schlußlichter des Vorzuges nicht erst im letzten Augenblick hinter seinem Lokomotivkessel hätte aufleuchten sehen.
Durch das rasche Anfahren der elektrisch betriebenen Züge sind die Fahrzeiten bedeutend verbessert worden, insbesondere bei den oft haltenden Personenzügen. Aber auch im gebirgigen Gelände ist die E-Maschine überlegen. Auf der rückfahrt nach München stellte ich erstaunt fest, dass die lange, steile Steigung von Hechendorf nach Murnau, wo sonst immer eine Schublokomotive angesetzt werden musste, von uns im 60-Kilometer-Tempo genommen wurde, ohne dass der Führer genötigt war, das Letzte aus der Maschine herauszuholen. Das derzeitige Elektrifizierungsprogramm der Reichsbahn sieht zunächst den Ausbau der Strecke Salzburg-München-Stuttgart-Karlsruhe-Kehl vor, die stellenweise sehr bergig ist – man danke an die Geislinger Steige – und durch eine wesentliche Verminderung der Fahrzeiten eine Abwanderung des Verkehrs Wien-Paris auf die landschaftlich reizvollere und infolge ihres bereits eingeführten elektrischen Verkehrs zeitlich nicht ungünstigere Paralelllinie Innsbruck-Zürich-Basel verhindern soll.
Im einzelnen kommt zu den Vorzügen noch die bessere Ausnützung der Maschinen, die praktisch fast unbegrenzt im Dienst sein können, da ja alle die langen Pausen des „Ausrüstens“, der Kohlen- und Wasserübernahme, des Entschlackens und Anheizens, wegfallen. Nicht zu vergessen die Verbilligung, die der elektrische Bahnbetrieb schon jetzt durch Personalersparnis – kein Heizer ist mehr nötig, nur auf Schnellzügen ein Mitfahrer – mit sich bringt, und die sich in dem Maße steigert, als die Ausbreitung des elektrischen Betriebs zunimmt.
Auf der Heimfahrt kamen wir in die Nacht, und ich konnte mich davon überzeugen, wie weit man die Lichtsignale sehen kann. Wenn nichts im Wege steht, erblickt man bei Durchfahrt der einen Station schon die Signale der nächsten.
Wir hatten noch ein kleines Erlebnis. In Weilheim meldete unser Mitfahrer, der bei jedem Halteplatz ausstieg und die Achsen untersuchte, dass die eine Triebachse warm gelaufen sei. In Tutzing meldete er sie heiß, und in Starnberg war sie noch heißer geworden. Wir hatten auf der Heimfahrt ein paar Reichsbahnräte bei uns, die nach kurzer Beratung entschieden: „Weiterfahren.“ Vermutlich sind E-Maschinen im Überfluß noch nicht da, und die dreißig Kilometer bis München geht’s schon noch. Es ging auch, aber das Öl wurde noch heißer und fing zu brennen an, und aus der einen Achse flatterte eine in der Dunkelheit rote Rauchflamme. Wir entdecken sie, aber der Stationsvorsteher von Gauting sah sie auch und fand, dass dies so nicht weitergehen dürfe; also meldete er den Vorfall seinem Kollegen in Planegg, er möchte den Feuerreiter gefälligst anhalten und ihm sagen, war er für einer wäre. Das geschah, und klein krochen wir im 30-Kilometer-Tempo heimwärts und kamen eine Viertelstunde zu spät.
Nun hatte ich auch das erlebt und denke nicht mehr daran zu schimpfen, wenn ein Zug mal wieder Verspätung hat. Durch eigenen Einblick bekam ich zuviel Respekt vor dem fabelhaft durchorganisierten Ineinandergreifen des Zugbetriebs und erfuhr, dass auch der beste, auch der E-Betrieb gewissen Tücken des Objekts unterworfen ist, was ihn jedoch nicht hindern wird, sich im Sturmschritt die Zukunft zu erobern.
Nett, oder ?
Ciao
Ralf